aus: Kritik,4, 1993, S. 101-104

Rupert Walser


ANTONIO CALDERARA
und das Muenchner studio UND


Du hast keine Ahnung, wie das fuer einen alten verlassenen Mann
wie mich belebend ist, rings um sich eine Jugend zu sehen,
die bereit ist, einen nicht sogleich zu begraben.

Das hat nicht der 62 -jaehrige Calderara an seinen jungen Malerfreund Jochims geschrieben, als er 1965 zum ersten Mal in Muenchen mit seinen abstrakten Bildern gezeigt wurde, sondern es ist eines der vielen treffenden Cezanne-Zitate, die Jens Christian Jensen im Katalogbuch zur Ausstellung Der Maler Antonio Calderara, Freunde - Einfluesse - Anregungen in der Kunsthalle Kiel 1982 (Kurator: Ulrich Bischoff) zusammengestellt hat. Calderara war damals schon 5 Jahre tot.
Seit dieser letzten grossen Ausstellung allerdings ist Calderara begraben. In kaum einer oeffentlichen Sammlung kann man heute ein Bild von ihm sehen. Erst heuer, ueber zehn Jahre danach, wurden im Kunsthaus Zug erstmals wieder eine grosse Zahl seiner Arbeiten in einem Museum gezeigt. Eine Parallele zum eben ausgegrabenen Guenter Fruhtrunk in Berlin und jetzt Muenchen liegt nahe.

Dabei spielt Muenchen - wie auch bei Fruhtrunk - eine bedeutende,
kaum bekannte Rolle im Leben, in der Vermittlungs- bzw. Rezeptionsgeschichte Calderaras.

1903 - 1915 - 1923 - 1933 - 1944 - 1959/60 - 1965 - 1978

1903 geboren, 1915 erstes Ölbild, 1923 erste Ausstellung in seinem Heimatort, 1933 beginnen Ausstellungen in ganz Italien. 1944 stirbt
das einzige Kind, seine geliebte Gabriella. Seitdem steigert er die Abstraktion bis zum ersten ungegenstaendlichen Bild 1959. Bis dahin ueber 40 Jahre gegenstaendliche Malerei, fast 40 Jahre Ausstellungen nahezu ausschliesslich in Italien.
1959, Calderara ist 57, war ein Leben lang erfolgreicher Maler, jetzt steht er ohne Gefolgschaft da. Almir Mavignier entdeckt ihn 1960 in Mailand - als er selbst in Manzonis und Castellanis Galleria Azimut ausstellte - und ueberzeugt Kurt Fried in Ulm zu einer Ausstellung im eben in seiner Privatwohnung gegruendeten Studio f. Dieser erste Schritt ueber die Alpen war sicher die Initialzuendung fuer Calderaras zweite, internationale Karriere. Er wurde noch im gleichen Jahr von Max Bill
in die Zuericher Ausstellung Konkrete Kunst - 50 Jahre Entwicklung aufgenommen. Ein Maler, der eben erst seit einem Jahr abstrakt malte!
Trotzdem dauerte es nochmal 5 Jahre, bis eine zweite private Initiative Calderara die internationale Aufmerksamkeit brachte: Das studio UND
in Muenchen.

1964 hatten der junge Jurist Wolf Wezel und der junge Maler Reimer Jochims und nicht zu vergessen Brigitte Wezel und Heinke Jochims begonnen, in der Wezelschen Wohnung, Barerstra§e 84, zunaechst in ganz kleinem Kreis Ausstellungen und Lesungen zu machen. Im ersten Jahr waren da immerhin schon Veranstaltungen u.a. mit Gomringer, Girke, Gappmayr und Bildern von Albers.

1965 fand dann die erste Ausstellung mit Calderara statt, die Heinz Gappmayr eroeffnete. (Den Kontakt hatte uebrigens - wie Jochims beschreibt - eine Frau Mueller hergestellt, die dann eine eigene Galerie eroeffnen wollte. Was wurde daraus? Im gleichen Jahr hat auch ein Herr Mayer in seiner Op-Art-Galerie in Esslingen Calderara ausgestellt. Daraus wurde spaeter die Galerie Denise Renz Hans Mayer, Duesseldorf.) 1966 wurde dem Ort ein Name studio UND gegeben, fand u.a. eine Einzelausstellung von Guenter Fruhtrunk, der damals noch in Paris lebte, statt (Eroeffnungsrede: Heinrich Stuenke). 1967 und 1969 weitere Ausstellungen von Calderara .

Nun muss man sich in Erinnerung rufen, dass bis 1963 neben den grossen Guenther Franke und Otto Stangl von den ca. 60 Galerien, die heute die Initiative zeitgenoessischer Kunst in Muenchen bilden, noch keine existiert hat. 1963 eroeffnet Heseler, er zeigt 1965 u.a. Elf Maler der Ecole de Paris und Eleven Pop-Artists. Auch Heiner Friedrich und Franz Dahlem eroeffnen 1963; Ausstellungen 1965: Robert Rauschenberg und Georg Baselitz, 1966 Pop Graphik, Richter und Palermo, erst 68 dann: de Maria, Andrz, Ryman, Flavin usw. Das heisst, im studio UND waren in den Jahren 64,65,66 neben Otto Stangl, der in dieser Zeit u.a. Poliakoff und Geiger zeigte, mit Calderara, Jochims, Fruhtrunk und Girke die extremsten Bilder, allerdings in "europaeischem" Format, in Muenchen zu sehen. Bei Rauschenberg oder Baselitz war ja immerhin "noch was drauf". Was aber hier gezeigt wurde, war "praktisch nichts". Noch dazu gepaart mit dem logischen naechsten - und letzten - Schritt: Konkrete Poesie von Gomringer, Gappmayr und Wezel. Das letzte Bild war verschwunden, durch Worte oder Zahlen ersetzt.

Verstaendlich, dass dieser Ort Anziehungspunkt fuer wenige aber hoechst interessierte Leute war. So kam Hermann Kern (spaeter Kunstraum) mit dem Radl und kaufte gleich mehrere Calderara-Mappen, der junge Schoettle holte sich hier fruehe Anregungen - er zeigt in seiner 1968 gegruendeten Galerie im Jahr 1972 gleich drei Kuenstler aus dem studio UND: Jochims, Calderara und Prantl, spaeter dann Weiner, Barry, Kosuth... Auch Alex Winter kam bald, der spaeter das anfangs
auch noch der Moderne sich widmende MPZ leitete.
Trotzdem waeren diese intimen aber intensiven Veranstaltungen, Ausstellungen, Lesungen, Konzerte, Publikationen nicht von solcher, auch Calderaras Karriere foerderlicher Wirkung gewesen, waeren nicht weit ueber Muenchen hinausgehende Aktivitaeten dazugekommen.
Von Peter Weiermair aus dem Taxispalais in Innsbruck kam 1967 die Einladung, Kuenstler des studio UND auszustellen. "Der Ausstellung gaben wir den Titel Konzeptionelle Kunst" - schreibt Wolf Wezel. "Wir galubten an die Weiterentwicklung der konkreten Kunst oder wie wir lieber sagten der realen Kunst (...) Wir lehnten die formalistische, ungeistige Spielart der konkreten Kunst ab und suchten eine ganzheitliche, geistig fundierte Kunst, die wir spaeter konzeptionelle Kunst nannten" - schreibt Reimer Jochims.
Diese europaeische - wohl kaum juengere - Schwester der amerikanischen Concept Art war auch weiter Titel einer Reihe von Ausstellungen u.a. 1968 in Mailand, 1969 in Muenchen (bei Stangl), in Frankfurt (bei Appel und Fertsch), in Koeln (in der Galerie Der Spiegel) und in Wien (in der damals noch vom legendaeren Monsignore Maurer geleiteten Galerie naechst St. Stefan). 1970 in Zuerich (Galerie Verna). Teilnehmer (leicht variierend): Calderara, Fruhtrunk, Gappmayr, Girke, Jochims, Prantl, Wezel, Zaffiri. Calderara war nach den zwei Ausstellungen 1965 und 1967 im Muenchner studio UND ein international hoechst geschaetzter und gefragter Kuenstler. Von 1968 bis zu seinem Tod 1978 hat er unzaehlige Ausstellungen in den besten Haeusern Europas. Um nur einige zu nennen: Kestner-Gesellschaft Hannover (Wieland Schmied),
documenta 4 (uebrigens auch Guenter Fruhtrunk!), Kunstmuseum Luzern (Jean Christoph Ammann), Stedelijk Museum Amsterdam, die Galerien m Bochum, Verna Zuerich, Reckermann Koeln, Schoettle und Keller Muenchen, Denise Renz Paris, ...
Heute ist es still um Calderara und das ist gut so. Grauenhafte Vorstellung ein aehnlicher Rummel wie um Beuys oder Warhol faende statt um den Maler der Stille, des Lichts, den Erfinder der Langsamkeit in der Malerei.

Trotzdem muessen wir Calderara heute sehen, erfahren duerfen.
Wir koennten eventuell mehr davon haben, als man sich bis vor zehn Jahren dachte.

So gibt es heute, nachdem eine gewisse Beruehrungsangst vom "Figurativen" genommen ist, auch den "figurativen" Calderara zu entdecken, der ein ganzes Malerleben lang vor seinem ersten abstrakten Bild traumhaft schoene Bilder gemalt hat in einer Meisterschaft und einem voellig eigenen aber aehnlich weitgetriebenen Abstraktionsgrad wie z.B. der von ihm hoch geschaetzte Morandi. Calderara machte in seinen Freunden und Vorbildern keinen stilistischen Unterschied. Fuer ihn war Morandi wie Fontana, Piero della Francesca wie Josef Albers.

Es gilt auch Calderara - und nicht nur Jochims und Fruhtrunk - als Anreger oder Vorbild einer ganzer Malergeneration besonders hier in Muenchen, aber auch anderswo, zu sehen. Da sind als bekannteste Guenther Foerg, Alfons Lachauer und Gerhard Merz zu nennen - ich wuerde sogar so kuehn sein und annehmen, dass Palermo ihn damals sehr wohl rezipiert hat. In seiner Weise Farbe sowohl zu transzendieren wie aber gleichzeitig zu materialisieren ebenso wie seine Bejahung, ja fast Thematisierung der Bildtafel, des Bildes als Objekt koennte Calderara weit ueber eine so direkte Wirkung hinaus als Vater einer ganzen Schar minimaler, serieller, monochromer, neu-geometrischer und radikaler Maler der letzten Dekaden gesehen werden.

Heute, fast 30 Jahre nach seinem ersten Auftreten in Muenchen und nachdem die meiste heissen Luft aus der dazwischenliegenden Wolke sang- und klanglos entwichen ist, kann man erkennen, dass Calderaras Bestaendigkeit als Maler und Mensch mehr Bedeutung und Wirkung hat und haben wird, als so mancher Innovationsknaller in diesem Jahrhundert.
So wuerde Jochims vielleicht heute, 20 Jahre nach Erscheinen seinen wunderbaren Calderara-Werkanalyse, den darin geschriebenen Satz "Sein Beitrag zum Fortschritt der Kunstgeschichte ist nicht sehr bedeutend..." revidieren und vielleicht doch als Fortschritt auch in der Kunstgeschichte ansehen, was er weiter schreibt: "...umso wichtiger sein Beitrag innerhalb der jungen Kunst zur Humanisierung des Sehens, des Empfindens, zu ganzheitlicher Erfahrung des Lebens in einer Zeit, die von Angst, Einseitigkeit, Anpassung und Neid bestimmt ist, in der ueberschnelle Technisierung ohne Ruecksicht auf die wirklichen Beduerfnisse der Gesellschaft mit einem Fortschrittstaumel zusammengeht, mit einer Flucht nach vorn, die das Leben in der Gegenwart sehr schwierig macht."
Calderaras Wohn- und Arbeitsort und gleichzeitig Sammlung seiner eigenen Werke wie der seiner Kuenstlerfreunde aus aller Welt, die Fondatione Calderara in Vaciago am Lago di Orta (65 km nordoestlich von Mailand) gehoert wohl zu den schoensten kleinen Privatmuseen Europas und ist einer der ganz wenigen Orte, wo moderne Kunst sich von selbst vermittelt. (Geoeffnet 15 Mai - 10 Okt., taegl. ausser Mo 10-12 u. 15-16 h)